4. Sonntag im JKB Jesus, der neue Moses
Dtn 18,15-20; Mark 1,21-28; 1 Kor 7,32-35
Im Zentrum des Evangeliums steht an diesem Sonntag die Frage: „Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht! Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl“ (Mk 1,27). Es ist die Reaktion auf Jesu erste Predigt in der Synagoge von Kafarnaum. Die ersten Worte aus dem Mund eines Charakters sind Programm, und so hat Markus auch diese erste Szene ganz bewusst ausgewählt. Sie enthält im Kern das gesamte öffentliche Wirken Jesu und dessen Bedeutung. Er lehrt mit göttlicher Vollmacht und beweist durch das Austreiben der Dämonen sowohl die Ankunft des Reiches Gottes in seiner Person als auch seine messianische Identität, denn dort, wo die Dämonen fliehen müssen, ist das Reich Gottes schon mitten unter uns. Jesu „Werke und seine Worte bekunden, dass er ‚der Heilige Gottes‘ ist“ (siehe KKK 438).
Markus berichtet uns nichts von dem Inhalt der Predigt, da er den wesentlichen Kern der Verkündigung Jesu schon im Evangelium des letzten Sonntags dargelegt hatte: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). In dieser Episode geht es ihm vor allem um die Reaktion der Menschen. Sie waren „voll Staunen über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten“ (1,22). Sein Ziel ist es nun, uns zu zeigen, dass Jesus kein Hochstapler war, sondern dass das Reich Gottes tatsächlich in seiner Person in die Zeit eingebrochen und er der von Gott verheißene Messias und Sohn Gottes ist. Zentral ist in dieser Hinsicht das Element der Lehre mit Vollmacht.
Das Judentum zur Zeit Jesu unterschied zwei Arten von Vollmacht. Die eine war die Sorte von Vollmacht, die einem von einem Meister übertragen wurde. Dieser konnte seine Vollmacht wiederum auf eine kontinuierliche Kette der Übertragung bis zu Moses zurückverfolgen (vgl. Pirqei Avot 1), vergleichbar etwa mit dem Konzept der apostolischen Sukzession im Christentum. Moses selbst hatte seine Lehre auf dem Berg Sinai direkt von Gott empfangen. Wer also in mosaischer Tradition stand, nahm die Autorität Mose für sich in Anspruch (vgl. Mt 23,2). Die zweite Form der Vollmacht ähnelt der Vollmacht des Mose selbst. Es ist die Vollmacht des Propheten, der sie direkt von Gott empfangen hat und demnach mit göttlicher Bevollmächtigung lehrt. Die Menschen, die Jesus in der Synagoge predigen hören, spüren instinktiv, dass die Vollmacht Jesu eine göttliche ist, da er nicht wie die Schriftgelehrten spricht, sondern wie ein Prophet, der sein Wort direkt von Gott empfängt. Sie spüren aber auch, dass seine Lehre „neu“ ist. Da die Schriftgelehrten in der Tradition des Mose standen, wird hiermit zum Ausdruck gebracht, dass Jesus etwas radikal Neues gebracht hat, das sich von der bisherigen Lehre deutlich unterscheidet. Markus wird später diese Neuheit mit dem Wort „neuer Wein gehört in neue Schläuche“ zum Ausdruck bringen (Mk 2,22). Der Leser weiß, woher Jesus diese Autorität zukommt. Sie ist ihm vom Heiligen Geist gegeben, der in der Taufe mit dem Aufreißen des Himmels auf ihn herabkam und ihn zum Messias gesalbt hat. Jesu Vollmacht stammt also von Gott selbst. Er spricht mit prophetischer Vollmacht.
Tatsächlich ist Jesus jener Prophet, der von den Propheten des Alten Bundes angekündigt wurde, der letzte der Propheten, der neue Moses, der den Neuen Bund mit Israel schließen wird. Moses selbst hatte kurz von seinem Sterben, jenseits des Jordan, in der Wüste, dem Volk prophezeit, dass Gott aus ihrer Mitte einen Propheten wie ihn erstehen lassen würde, und dass dieser Prophet ihnen die endgültige Lehre Gottes verkünden würde. Es sind die Worte, die wir an diesem Sonntag in der ersten Lesung hören:
Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören. Der Herr wird ihn als Erfüllung von allem erstehen lassen, worum du am Horeb, am Tag der Versammlung, den Herrn, deinen Gott gebeten hast, als du sagtest: Ich kann die donnernde Stimme des Herrn, meines Gottes, nicht noch einmal hören und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen, ohne dass ich sterbe. Damals sagte der Herr zu mir: Was sie von dir verlangen, ist recht. Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm gebiete. Den aber, der nicht auf meine Worte hört, die der Prophet in meinem Namen verkünden wird, den ziehe ich selbst zur Rechenschaft. Doch einen Propheten, der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu verkünden, dessen Verkündigung ich ihm nicht geboten habe, oder der im Namen anderer Götter spricht, ein solcher Prophet soll sterben (Dtn 18,15-20).
Einen Propheten „wie Moses“, was bedeutet das? Moses war derjenige, der Israel aus dem Sklavenhaus in Ägypten herausgeführt hatte. Auf seine Fürsprache hin hatte Gott das Volk in der Wüste mit Manna gespeist und mit Wasser aus dem Felsen getränkt. Moses hatte sodann das Volk zum Gottesberg Horeb geführt, wo Gott sich den Israeliten offenbarte und sie durch den Bundesschluss zu seinem Volk gemacht hatte. In der metaphorischen Sprache des Alten Testamentes war Israel durch diesen Bund zum erstgeborenen Sohn Gottes geworden (vgl. Ex 4,22). Weil das Volk aber eine solche Angst vor der Erscheinung der Herrlichkeit Gottes auf dem Berg ergriffen hatte, baten sie darum, dass Moses im Namen Gottes mit ihnen reden möge. „Gott soll nicht mit uns reden; sonst müssen wir sterben“ (Ex 20,19). Gott ließ sich darauf ein und so wurde Moses zum Mittler zwischen Gott und Israel. Er offenbarte dem Volk das Gesetz Gottes, errichtete den Tempel sowie den Opfer- und Sühnekult und setzte das Aaronische Priestertum ein. So konnte Gott in Israels Mitte Wohnung nehmen und Israel hatte alles, dessen es bedurfte, um Gott auf rechte Weise zu verehren, ein Leben nach Gottes Weisung zu führen und unbeschadet die Wüste zu durchqueren.
Das Einzige, was noch fehlte, war die Landnahme, die Moses nicht mehr vollziehen durfte. Da Moses eine solche Schlüsselrolle einnahm, ist es verständlich, dass das Volk sich eine Landnahme ohne Moses kaum vorstellen konnte. Deshalb verhieß ihnen Gott, durch den Mund Mose, dass er ihnen einen Propheten wie Moses schicken würde. Ja, sogar einen, der noch größer sein würde als Moses, da er ihnen die endgültigen Worte Gottes verheißen würde. Ein Prophet wie Moses bedeutet also, dass dieser Prophet, genau wie Moses, ein Retter und Ernährer sein würde und einer, der für Israel einen neuen Bund mit Gott schließen würde, denn den alten hatte Israel durch seinen Götzendienst gebrochen. Er würde ein Mittler sein zwischen Gott und Israel, der ihnen ein neues Gesetz offenbaren würde, den Tempel reinigen oder sogar neu bauen würde, der das Priestertum reinigen bzw. erneuern würde (Mal 3,3) und der ihnen das Wort Gottes selbst verkünden würde. Schließlich würde dieser Prophet auch die Rolle des Josua übernehmen und den Israeliten nun endlich in das Land, Symbol für das Reich Gottes, zum Besitz geben.
Diese mosaische „Job-Description“ war Teil der Messias-Erwartung zur Zeit Jesu. Das Anliegen des Markusevangeliums, wie wir es im Laufe des Jahreskreises hören werden, besteht nun darin, uns zu beweisen, dass Jesus genau dieser neue Moses und lang erwartete Prophet ist, der den [neuen] Bund Gottes mit Israel geschlossen hat (vgl. Mk 14,24), der das Reich Gottes in Person ist, und dass dieses Reich Gottes durch Jesu Tod und Auferstehung endgültig angebrochen und in seinen Jüngern gegenwärtig ist.
Der stärkste Beweis für den Anbruch des Reiches Gottes in der Person Jesu Christi war für die Menschen der damaligen Zeit wie auch die frühen christlichen Apologeten (z.B. Tertullian) die Tatsache, dass Jesus mit Vollmacht den unreinen Geistern befahl und die Besessen befreite. Kaum, dass Jesus seine Lehre in der Synagoge beendet, beginnt ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen ist, zu schreien: „Was haben wir mit dir zu tun? Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes“ (Mk 1,24). Während die Menschen rätseln, wer dieser Jesus ist und woher ihm eine solche Vollmacht zukommt, wissen die Dämonen, die Geistwesen sind, schon längst, wer er ist. Und sie bekennen es: „Der Heilige Gottes!“ Sie selbst werden als unreine Geister beschrieben, während Jesus „der Heilige“ ist, das heißt, der ganz und gar reine und gottgleiche. Dieser Titel stammt aus der griechischen Version der Samson-Geschichte im Buch der Richter stammt (Ri 16,17) und impliziert, dass Jesus Retter und Erlöser ist. Nicht, wie wir schon am letzten Sonntag gesehen haben, Retter aus der Hand eines menschlichen Feindes, wie der Philister oder der Römer, sondern aus der Hand des eigentlichen Feindes, des Satans und seines Anhangs, der Dämonen. Während Jesus dem Dämon einerseits sofort gebietet zu schweigen, bestätigt er andererseits, was dieser gerade über ihn offenbart hat, indem er ihm befiehlt, den Mann zu verlassen. „Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei“ (Mk 1,26). Kein Mensch kann sich selbst oder einen anderen aus der Hand eines Dämons befreien. Das kann nur der, der selbst stärker ist als Satan und das ist kein anderer als Gott (vgl. auch Mk 3,22-30). Aus diesem Grund galten die im Namen Jesu vollbrachten Exorzismen den frühen Christen als stärkster Beweis seiner göttlichen Identität und des Anbruchs des Gottesreiches in seiner Person und in der zu ihm gehörenden Gemeinschaft, die wir nun die Kirche nennen.
Auch die zweite Lesung handelt vom Anbruch des Reiches Gottes in der Zeit. Wir hören einen Abschnitt aus dem siebten Kapitel des ersten Korintherbriefes. Es lohnt sich, den Abschnitt im Kontext zu lesen. Paulus spricht über den Wert der Ehelosigkeit um Christi Willen. Zwar habe er diesbezüglich kein Gebot vom Herrn, gebe aber, als einer, den der Herr durch sein Erbarmen vertrauenswürdig gemacht hat, einen Rat: „Ich meine“, so sagt er, „es ist gut für den Menschen so zu sein. Bist du an eine Frau gebunden, such dich nicht zu lösen; bist du ohne Frau, dann suche keine! Heiratest du aber, so sündigst du nicht; und heiratet eine Jungfrau, sündigt sie auch sie nicht. Freilich werden solche Leute Bedrängnis erfahren in ihrem irdischen Dasein; ich aber möchte sie euch ersparen“ (1 Kor 7,25-28). Es folgen sodann die Verse, die wir am letzten Sonntag gehört haben und schließlich die Passage, die wir an diesem Sonntag hören: „Ich wünschte aber, ihr wäret ohne Sorgen. Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn, er will dem Herrn gefallen. Der Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; er will seiner Frau gefallen. So ist er geteilt. Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist. Die Verheiratete sorgt sich um die Dinge der Welt; sie will ihrem Mann gefallen. Dies sage ich zu eurem Nutzen: nicht, um euch eine Fessel anzulegen, vielmehr, damit ihr euch in rechter Weise und ungestört immer an den Herrn haltet“ (1 Kor 7,32-35).
Diese Verse kommentiert der Katechismus mit folgenden Worten: „Seit den Zeiten der Apostel hat der Herr christliche Jungfrauen dazu berufen, sich in einer größeren Freiheit des Herzens, des Leibes und des Geistes ungeteilt an ihn zu binden [vgl. 1 Kor 7,34-36]. Sie haben mit Zustimmung der Kirche den Entschluss gefasst, „um des Himmelreiches willen [Mt 19] im Stand der Jungfräulichkeit zu leben“ (KKK 922). Mit „christlichen Jungfrauen“ sind gleicherweise Männer und Frauen gemeint. Diese Lebensweise war dem Judentum so nicht bekannt. Erst mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kam sie auf und zwar aus ganz einfachem Grund. Zum einen hatte Jesus selbst ehelos gelebt. So ist es verständlich, dass Menschen, die ihm nachfolgen wollen, auch seine Lebensweise nachahmen wollen. Zum anderen aber, und dies ist der entscheidende Grund, ist in Jesus Christus das Himmelreich schon in die Zeit eingetreten. Der endgültige, göttliche Bräutigam eines jeden Menschen hat in ihm Fleisch und Blut angenommen, sodass Menschen in ihrem Herzen den Ruf verspüren, schon im Hier und Jetzt Jesus mit ungeteiltem Herzen zu lieben. Das Kommen Christi in die Zeit ist für alle, die sich zu einem Leben der Jungfräulichkeit entscheiden, „der Ursprung und die Ausrichtung ihres Lebens“ (KKK 933).
Für alle Christen ist Jesus das Zentrum des Lebens und für alle Christen gilt, dass die Verbindung mit ihm vor allen anderen Bindungen in Familie und Gesellschaft Vorrang hat (vgl. Lk 14,26; Mk 10,28-31; KKK 1618). Einige aber sind gerufen, diesen Vorrang derart radikal zu leben, dass sie auf das große Gut der Ehe verzichten, um – wie es die Offenbarung des Johannes, Paulus und Matthäus in je eigenen Bildern ausdrücken – „dem Lamm überallhin zu folgen, wohin es geht“ (Offb 14,4), sich um die Sache des Herrn zu kümmern (1 Kor 7,32) und dem kommenden Bräutigam entgegenzugehen (vgl. Mt 25,6; KKK 1618). „Die Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen ist“, nach dem Verständnis der Kirche, „eine Entfaltung der Taufgnade [weil die Seele in der Taufe Christus an verlobt wird; vgl. 2 Kor 11,2]. Sie ist ein mächtiges Zeichen des Vorrangs der Verbindung mit Christus, des sehnsüchtigen Harrens auf seine Wiederkunft, ein Zeichen, das auch daran erinnert, dass die Ehe der Weltzeit angehört, die vorübergeht (vgl. Mt 12,25; 1 Kor 7,31)“ (KKK 1619). Mit dieser Aussage will die Kirche die Ehe in keiner Weise herabwürdigen. Im Gegenteil, die Ehe ist ein Sakrament und als solches ein heiliges Zeichen der Liebe Christi zu seiner Kirche, die wiederum durch den jungfräulich lebenden Menschen dargestellt wird. Insofern lassen sich „[d]ie Hochschätzung der Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen und der christliche Sinn der Ehe nicht voneinander trennen; sie fördern einander“ (KKK 1620). Aus diesem Grund mahnt der Heilige Johannes Chrysostomus:
„Die Ehe herabwürdigen, heißt gleichzeitig die Ehre der Jungfräulichkeit schmälern; sie lobpreisen, heißt die der Jungfräulichkeit gebührende Bewunderung steigern ... Was nämlich nur im Vergleich mit einem Übel gut erscheint, kann nicht wirklich gut sein, aber das, was noch besser ist als unbestrittene Güter, ist das hervorragende Gut [Johannes Chrysostomus, virg. 10, 1]“ (KKK 1620).
Die Ehe ist heilig und Gott gewollt, sie ist das Fundament und die unverzichtbare Keimzelle der Gesellschaft. Und dennoch ist die Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen das „hervorragendere Gut“, wie Chrysostomus sagt, weil sie das endgültige vorwegnimmt und ein für alle Menschen sichtbares Zeichen dafür ist, dass Gott allein genügt (Theresa von Avila).